Liebe Foristen und Experten,
ich habe folgendes Anliegen: Die Demenz meiner Mutter (80) schreitet momentan sehr schnell voran. Erschwert wird die Situation dadurch, dass sie auch körperbehindert ist, und sich gar nicht bewegen kann. In den meisten Situationen kann ich ganz gut damit umgehen. Zwar wiederholt sie oftmals Dinge, aber sie ist auch oft gut gelaunt und gar nicht mal so anders als früher. Schlimm ist allerdings, wenn Einlagen gewechselt werden, beim Waschen, und zu Bett gehen. Ich habe den Eindruck, dass sie das inzwischen (nach jahrelanger Pflegebedürftigkeit) nicht mehr erträgt, und gar nicht mehr damit umgehen kann. Zum Teil beschimpft sie mich oder den Pflegedienst. Eigentlich kann ich auch damit inzwischen umgehen, seitdem ich von "paranoider Übertragung" gelesen habe. Was mich aber wirklich fast zur Verzweiflung bringt, ist folgende "Werde ich jetzt erschlagen?"- "Erschlägst du mich jetzt``" - "Wahrscheinlich werde ich heute nach ermordet?". Das bringt mich jedes Mal so aus der Fassung, dass ich kaum ruhig bleiben kann. Ich weiß natürlich, dass diskutieren nichts bringt. Dennoch sage ich manchmal Dinge wie: "Ich bin doch deine Tochter, ich würde dir nie etwas tun." Versuche, sie zu beruhigen scheitern sehr oft, sie hat dann eine Schallplatte und wiederholt das immer wieder. Ich vermute, dass Ganze kommt von Kindheitserinnerungen aus dem Krieg, das heißt, ich versuche sie oft dahingehend zu beruhigen, dass sie davor keine Angst mehr haben muss. Aber es bringt nicht viel. Ich wäre sehr dankbar für Empfehlungen, wie man das vielleicht nicht so an sich heran lässt oder wie man damit umgehen könnte. Danke!
Wie bekomme ich mehr Distanz?
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Hallo Hanseline,
wenn das Verhalten, wie Sie vermuten, aus einem Trauma aus Kriegszeiten und Kindheit herrührt, ist Ihre Mutter in solchen Momenten emotional wieder das kleine Mädchen von damals. Was hätte ihr als Kind geholfen oder Trost gespendet? Hatte sie eine Puppe oder ein Kuscheltier, oder eine Spieluhr, und könnten Sie ihr ein vergleichbares Objekt anbieten? Und, falls Ihre Mutter nicht Diabetikerin oder sehr adipös ist, oder bereits unter starken Schluckbeschwerden leidet: Mag Ihre Mutter Süßes? Es wäre einen Versuch wert, wenn sie die Versorgung emotional mit einem süßen Trost (wie etwa Schokolade) in Verbindung bringen könnte - wenn man ihr also jedes Mal vor einer unangenehmen oder sie ängstigenden Prozedur eine Leckerei anbieten würde.
Wichtig wäre auch, herauszufinden, welcher Teil der Pflege diese Flashbacks produziert - ist es generell das Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins, oder geht es vor allem um das Thema Intimpflege? Australische Praktiker haben eine Methode entwickelt, die sie mit Erfolg einsetzen, wenn vor allem letzteres abgewehrt wird: Sie drehen die Reihenfolge der Versorgung (erst oben rum waschen, dann die Intimpflege) um. Sie beginnen mit dem unangenehmsten, am meisten angst- und schambesetzten Bereich. Noch dazu "kuscheln" sie die pflegebedürftige Person auf ungewöhnlich Art und Weise ein: Sie schlagen beispielsweise die Bettdecke von unten auf Hüfthöhe doppelt um (statt sie wie bei uns, von oben nach unten, oder seitlich zu entfernen) und stopfen sie dann seitlich rechts und links unter den Oberkörper. Je nach Breite der Decke wird der Oberkörper also "gepuckt" oder "eingewickelt". Was tatsächlich einer sanften Fixierung gleichkommt, scheint sich aber für die versorgte Person kuschelig und geborgen anzufühlen, ähnlich einem Tragetuch für ein Baby; es ist warm und weich, die Menschen spüren sich für einen Moment besser und werden tatsächlich ruhiger. Obendrein können sie die Pflegenden in der Situation nicht schlagen, oder sich ängstlich an ein Bettgitter krallen. Ob die Betroffenen dann weniger schimpfen, ihre Ängste oder Wahninhalte aussprechen, kann ich Ihnen leider nicht sagen, denn darüber stand nichts in dem Bericht von "down under". Da diese Herangehensweise auch schon in einigen Fällen hier mit Erfolg angewandt wurde, wäre es vielleicht auch in Ihrer Situation einen Versuch wert. Vielleicht hilft's? Ich drücke die Daumen!Freundliche Grüße
S. Sachweh -
Liebe Frau Sachweh,
vielen Dank für Ihre ausführliche Antwort. Ich werde sowohl die Decke als auch die Schokolade mal ausprobieren. Und ich nutze die Gelegenheit, um noch ein wenig mehr von der Situation zu schildern. Probleme gibt es viele wie so oft. Wenn ich es recht überlege, haben sich diese Wahnvorstellungen inzwischen auch schon auf den Nicht-Intimpflege-Alltag ausgeweitet, das heißt auf die Zeit davor und die Zeit danach. Das heißt, es ist wohl tatsächlich diese Angst, dann bald wieder ausgeliefert zu sein, bzw. ein Prozess, dieses Ausgeliefertsein im Nachhinein zu verarbeiten? Vor einigen Monaten hat sie auch manchmal noch Sachen gesagt wie "mach nur schnell fertig, dann wird es wieder besser". Und das wurde es tatsächlich, sobald sie wieder in Ruhe, unbedrängt am Tisch sitzen konnte. Das Ausgeliefertsein ist aber vielleicht ein noch allumfassenderes Gefühl: Wir Familienmitglieder sind gerade dabei, noch eine Hilfe zu organisieren, die meine Mutter abends ins Bett bringt (zusätzlich zum morgigen Pflegedienst), wenn ich nicht da bin (ca 15-20 Tage im Monat). Bisher hat das mein Vater gemacht, für den es aber auch zuviel wird. Mit der Ankündigung, es käme eine Schwester abends, kam meine Mutter aber nur sehr schlecht zurecht. Der Einstieg der neuen Kraft war dann auch erschreckend, sie hat sie richtig abgewehrt und mit Schimpfworten belegt. Und meine Mutter war immer sehr auf Distanz bedacht, darum kann ich sie eben in gewisser Weise sogar sehr gut verstehen, was es natürlich noch schwerer macht. Während der Corona-Hochkrisenzeit habe ich für einige Wochen komplett die Pflege übernommen. Meine Mutter hat in der Zeit fast jedes Abwehrverhalten komplett abgelegt. Nun ist es natürlich sehr schwer für sie, dass ich mich wieder etwas mehr zurückziehe - und für mich aber fast genauso. Ich sage mir immer wieder, dass es nicht anders geht, weil ich in der Zeit kaum noch Zeit hatte, ein eigenes Leben zu führen und meine Arbeit wieder aufzunehmen. Ich habe versucht, das meiner Mutter auch zu erklären, ich müsse nun wieder Geld verdienen usw. Um vielleicht zu einer Frage zu kommen : Haben Sie einen Ratschlag, wie man denn zwischen Empathie und dem Bewusstsein, "das Richtige" zu tun, auch gegen den Willen meiner Mutter, ein wenig hin- und herswitchen kann? Also dem Bewusstsein, dass sie doch gut und von einer Fachkraft gepflegt werden muss, auch wenn sie das nicht leiden mag? Vermutlich ist das eine schwer zu beantwortende, ethische Frage. Vielleicht hätten Sie oder jemand anderes einen Buchtipp dazu? Vielen Dank. -
Hallo Hanseline,
leider fällt mir spontan keine passende Lektüre zu Ihrem Thema ein, obwohl in der Regel alle Angehörigen, die Bücher über ihr Leben mit einem Menschen mit Demenz verfasst haben, dieses Dilemma zwischen den Zeilen reflektieren...
Mir ist noch nicht ganz klar, ob Sie für sich selber eine emotional entlastende Argumentationslinie suchen, oder gegenüber Ihrer Mutter. Dass der Schritt, sich fachliche Unterstützung zu suchen, richtig ist, wissen Sie ja - Sie können bei aller Liebe nicht auf Dauer Ihr komplettes Leben aufgeben oder Ihre Arbeit kündigen. Zugleich können Sie ja trotzdem signalisieren, dass Sie die abwehrenden Gefühle Ihrer Mutter verstehen, und dass es Ihnen auch viel lieber wäre, es ginge anders.
Rationale Argumente und Begründungen für Ihren Rückzug wird Ihre Mutter krankheitsbedingt nicht mehr verstehen, aber vielleicht emotionale: Sie könnten z.B. sagen, dass die Hilfe am Abend dringend nötig ist, um den gesundheitlich auch angeschlagenen Vater zu entlasten. Diese Hilfe anzunehmen wäre also ein Zeichen der Liebe und Verbundenheit zu ihrem Mann... damit die beiden noch möglichst lange im gemeinsamen Zuhause leben können. Außerdem könnten Sie, falls Ihre Mutter einen guten Draht zu ihrem Hausarzt hat und diesen als Autorität akzeptiert, auch sagen, der Doktor habe das als medizinisch notwendig angeordnet - das wird manchmal besser akzeptiert, als wenn Sie als Tochter solche Entscheidungen treffen.Freundliche Grüße
S. Sachweh
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