Plötzlich ist Krieg und Flucht – ganz lebendig für Menschen mit Demenz und deren Kinder

Datenschutzhinweis: Bitte achten Sie darauf, dass Sie im Forum keine persönlichen Daten von sich selbst oder von Dritten posten. Auch sollten Ihre Angaben keine Rückschlüsse auf Ihre Person zulassen.
    • Offizieller Beitrag

    Heute möchte ich zu einem Erfahrungsaustausch zu diesem aktuellen Thema einladen, vielleicht mit zwei Fragen:

    • Wie reagieren Menschen mit Demenz und was hilft ihnen?
    • Was macht es mit den Kriegskindern, die durch die Folgen des Kriegs geprägt wurden und nun miterleben, wenn der Krieg und die Flucht neu erlebt wird?

    Als Einstieg möchte ich auf einen bewegenden Youtube-Film hinweisen, der bei uns im AWO-Servicehaus entstanden ist. Über knapp zwei Jahre begleiteten die Filmemacher Kay Gerdes und Jess Hansen einen Gesprächskreis mit der Nervenärztin Helga Spranger, sie hat den Verein Kriegskinder e.V. über Jahrzehnte maßgeblich geprägt.


    „Mit dem letzten Schuss ist der Krieg noch nicht vorbei?“ Der Film macht in den persönlichen Beiträgen deutlich, wie die Menschen bei uns im Servicehaus damit umgegangen sind. Die Theorie wird dabei fast ausschließlich in der Erfahrung deutlich, nur kurze Überschriften bringen das Thema der Bewältigung oder Resilienz auf den Punkt. Zu jedem Stichwort könnten wir uns hier austauschen:

    • Die düsteren Gedanken endlich frei lassen
    • Körper und Geist aufgewühlt
    • Die Angst bleibt
    • Eisiges Schweigen
    • Unbewusstes hervorholen
    • Einsam oder geborgen – nicht im Krieg
    • Einen Halt suchen
    • Krise als Chance
    • Später Neubeginn

    Den Film finden Sie im Internet: https://www.youtube.com/watch?v=O80fgXvryc8


    Die eindrucksvollen und authentischen Erfahrungen sind Beispiele für eine gelingende Bearbeitung schlimmer Erfahrungen. Ich bekomme noch heute eine Gänsehaut, wenn ich mich daran erinnere, dass Teilnehmerinnen nach dem Film unerwartet verstorben sind, - so als hätten Sie endlich Frieden gefunden. Für andere schien es mir wie eine Befreiung, sie wirkten in den Folgejahren vitaler, freier und engagierter. Einer Dame habe ich mal gesagt: Die schlimme Erfahrung ist nicht weg, aber sie ist in ein Geschenkpaket verpackt, weil es mit dem Film auch anderen hilft sich zu öffnen, mitzuteilen und zu entlasten.


    Nun 5 Jahre nach der Gruppe bestätigt der Film meine unwissenschaftliche Erkenntnis: Menschen die über die schrecklichen Fragen sprechen und echte Aufmerksamkeit und Trost finden, rutschen auch in der späteren Demenz nicht so tief in die Retraumatisierung und können auch im Sterben loslassen.

    Ich könnte jetzt noch ganz viel schreiben, aber viel lieber ergänze ich es, wenn ich Ihre Erfahrungen lese.


    Ich freue mich auf Ihre Erfahrungen und Gedanken, Ihr Martin Hamborg

  • Hallo Herr Hamborg,

    ich finde das ein durchaus interessantes Thema. Im Gegensatz zu vielen anderen alten Menschen hat meine Mutter (Jg.1930) immer relativ viel von Kriegserlebnissen, Ausgebombtsein, Hunger etc. erzählt. Nun habe ich das Gefühl, dass sie die Nachrichten über den aktuellen Krieg in der fortgeschrittenen Demenz nicht mehr erreichen, zum Glück. Auch wenn andere Heimbewohner nun davon erzählen, sie sagt jedenfalls, es tangiert sie nicht mehr... Weiß natürlich nicht, was noch kommt bei ihr.

    Liebe Grüße

    Rose60

  • Hallo in die Runde,

    ich kann bestätigen, was Rose und Schwarzer Kater geschrieben haben. Ich habe das Thema Ukraine und Krieg vergangene Woche mal angesprochen. Auch meine Mutter wusste nicht, was da eben passiert und sie hat auch nicht reagiert, als ich ihr davon erzählt habe. Dabei bekommt sie täglich ihre Zeitung und schaut auch Fernsehen.

    Meine Mutter war Kriegskind, meine Oma wurde aus dem heutigen Tschechien vertrieben und musste mit ihren Töchtern; meiner Mutter (damals 5) und meiner Tante (damals 1) von heute auf morgen ihr zu Hause verlassen. Der Opa war im Krieg. Was ich zu dieser Zeit weiß, habe ich von meiner Tante, meine Mutter hat mit mir eigentlich nie darüber gesprochen und heute weiß sie nichts mehr davon.


    Irgendwie habe ich den Eindruck, dass meine Mutter in ihrer guten Zeit "festhängt", und alles andere nicht mehr aufnimmt. Auf meine Frage wie alt sie ist, hat sie mir mal gesagt "40?". Auch sie hat überhaupt keine Vorstellung, wie lange sie schon im Pflegeheim ist.

    Dass meine Mutter von dem Krieg nichts weiß (ebenso wie von Corona) finde ich in gewisser Weise tröstlich.......


    Ich wünsche uns allen, dass vielleicht doch das Gute in der Welt gewinnt (bald) und euch ein schönes Wochenende - trotz alledem!

  • Meine Mutter hat seit ich denken kann immer von ihren Erlebnissen in Kriegszeiten erzählt, ich weiß darüber sehr viel, meine 7 Jahre ältere Schwester noch mehr. Vor etlichen Jahren haben wir auch begonnen, aus ihren Erzählungen mit Ergänzungen durch andere eine Familiengeschichte mitsamt Kriegserlebnissen zu erstellen, die letztes Jahr fertig geworden ist (unsere Kinder und Enkel sollen das möglichst authentisch erhalten bekommen).

    Sie scheint auch jetzt immer wieder noch zu erfahren und für kurze Zeit zu begreifen, was geschieht, aber es verschwimmt dann auch wieder in ihrer Wahrnehmung und wird den ihr "wichtigeren Dingen" geopfert, wie z.B. der Überlegung, ob sie was im Kühlschrank hat, ob irgendjemand ihr etwas eingekauft haben könnte, was sie am Abend essen könnte, ob sie überhaupt heute schon gegessen hat.

    Die Erinnerungen scheinen mir durch das sehr viele Erzählen bei ihr gut aufgearbeitet und nicht durch die aktuellen dramatischen Ereignisse irgendwie aufzuwühlen.

  • Bei meinem (verstorbenen) Großvater, der auch Demenz hatte und einige Jahre in einem Heim lebte, war der Krieg ein großes Thema, und oft Hauptgesprächsthema mit den wenigen männlichen Mitbewohnern.


    Bei meinem Vater (geb. wenige Monate nach Kriegsende) geht es jetzt eher um Flüchtlinge und ihre Erfahrungen. In der Kleinstadt, wo er aufwuchs wurden diese seiner Erinnerung nach ganz schlecht behandelt. Deshalb wandelte er sich 2015 zu meiner großen Überraschung von einem eher "Rechten" zu einem großen Unterstützer der Flüchtlingspolitik der Regierung.


    Jetzt ist es leider so, dass er einfach die Zusammenhänge nicht mehr begreift. Man kann die Situation mit ihm eigentlich nicht mehr besprechen, es ist zu frustrierend (für meine Mutter und mich) bzw. peinlich (wenn andere Leute dabei sind). Er poltert lautstark, aber hat gar keine Ahnung, was los ist und erzählt oft völligen Mist.


    Bei meiner Nachbarin ist eine ukrainische Familie eingezogen, und ich habe mit Behördengängen u.ä. geholfen. Die Familie ist jetzt seit gut 4 Wochen da; der 13-jährige Sohn geht schon seit zwei Wochen in die Schule, und mit der 19-jährigen Tochter habe ich Lebenslauf und Bewerbungen geschrieben, und dann über Freunde erstmal Praktika gesucht -- alle wollen helfen, und sie hat mittlerweile 4 (!) Angebote erhalten. Habe hierbei versucht, meinen Vater einzubeziehen (auf Lebenslauf und Bewerbungen hätte er sich früher gierig gestürzt), aber er hatte leider keinerlei Interesse mehr.


    Nachdem er in den letzten Wochen stark abgebaut hat und jetzt auch immer wieder Wahnvorstellungen hat (z.B. erzählt er meiner Mutter er hätte sich gerade mit mir gestritten, obwohl ich gar nicht da war) und nachts rumirrt und seine verstorbene Mutter sucht oder behauptet sein Bett wäre weg, haben wir uns entschlossen, vom Thema Krieg und Flucht möglichst wenig zu erzählen, um ihn nicht noch weiter zu verwirren.

    • Offizieller Beitrag

    Hallo in die Runde, danke für die Erfahrungen zu unserem Thema. Sie bestätigen das, was ich auch oft miterlebt habe: Mit dem Alter und der beginnenden Demenz werden die Erfahrungen aus Krieg und Vertreibung wieder sehr lebendig und oft erschien es mir, als ob sie irgendwann oft genug berichtet wurden oder der Nachwelt aufgeschrieben wurden, - so als würde aus den schlimmen Erlebnissen und der Angst ein wertvolles Zeitzeugnis oder sogar ein Abenteuer.
    Manchmal habe ich in Gesprächsgruppen den Eindruck, als wenn sich die alte Angst in Dankbarkeit oder sogar etwas Stolz entwickelt. Vor zwanzig Jahren erlebte ich viel mehr Menschen, die keine Wort für die schlimmen Erfahrungen gefunden haben und manchmal mit Scham reagierten: "Wir waren so dumm".


    An sehr vielen dramatische Erlebnisse habe ich zum Beispiel in Schulungen in kardiologischen Schulungen teilhaben können und ich erinnere mich noch sehr

    an einen alten Mann, der sich nach der Entlassung aus dem Krankenhaus hinter seinem Bett versteckte und den Urinbeutel mit einer Handgranate verwechselte. Aber bei diesem Menschen war nicht eine Demenz im Vordergrund sondern ein Delir. Die körperlichen Empfindungen in diesem Ausnahmezustand des Gehirn haben vermutlich als starker Trigger für den "Fahrstuhl in die Vergangenheit" gewirkt.


    Hier spielt die nächtliche Verwirrtheit eine Rolle, die Sie OiOcha beschreiben. In meinen ersten Berufsjahren wurde ich oft nachts zu solchen Krisen gerufen, bis ich eine "Checkliste Verwirrtheit" entwickelt habe, mit der die Nachtwachen die wichtigsten Auslöser und Ursachen erkennen und behandeln konnten: nächtliche Zwischenmahlzeit gegen Unterzuckerung, Begleitung zum Toilettengang bei nächtlicher Desorientierung, Schmerzen, Durst ... oder Trost bei Abträumen.


    Ihnen allen ein wunderschönes Osterfest, trotz all der Schwere, die wir gerade erleben und miterleben. Ihr Martin Hamborg

  • Hallo Herr Hamborg -


    ich hoffe, Sie hatten ebenfalls ein schönes Osterfest!

    Meine Mutter bzw. früher meine Eltern haben über ihre Erfahrungen im Krieg eigentlich gesprochen seit ich ein Teenager war. Sie waren immer sehr offen, beide haben sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Meine Mutter spricht jetzt öfter über ihre Kriegserfahrungen, aber das war schon vor Beginn des Kriegs in der Ukraine so. Ihre Erinnerungen über den Krieg sind auch noch recht detailliert. Sie hatte zu Beginn des Ukraine-Kriegs ein paar Tage Angst, dass es "wieder so wird wie damals", aber das hat sich gelegt. Mittlerweile schaut sie sich die Nachrichten an, aber hat keine Angst mehr. Das finde ich sehr beruhigend.


    Viele Grüße

    TanjaS

    • Offizieller Beitrag

    Hallo TanjaS, Ihre Erfahrungen bestätigen meinen Eindruck. Es spricht also viel dafür, dass Ihre Mutter die schlimmen Erlebnisse als Lebenserfahrung verbuchen konnte. Damit spielt zumindest ein Faktor für einen hohen Leidensdruck in der zunehmenden Demenz keine Rolle, die Retraumatisierung, die so oft zu extremen Problemlagen führt!


    Der offene Umgang in der Familie und das Aus-sprechen der alten Ängste hat immer auch eine tröstende Wirkung, denn mit jeder Erzählung wird unsere Erinnerung im Gehirn etwas anders abgespeichert, deshalb werden aus Schrecksekunden Abenteuer auf die wir Stolz sind.


    Wenn trotzdem mal alte Ängste aktiviert werden, braucht es sehr starke "Trigger". Das können auch körperliche Symptome einer Krankheit sein, die sich genauso anfühlen wie die schlimme Erfahrung damals. Aber dann wissen wir was zu tun ist: Abklärung der Krankheit und der bewährte Trost!

    Alles Gute in die Runde, Ihr Martin Hamborg

Jetzt mitmachen!

Sie haben noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registrieren Sie sich kostenlos und nehmen Sie an unserer Community teil!