Eigene Autonomie und neurodegeneratives Zwangsverhalten

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  • Hallo liebe Userinnen und User,

    ich habe einen Angehörigen, dessen Frau an einer frontotemporalen Demenz erkrankt ist. Ich selbst unterstütze beide regelmäßig im Alltag und bin häufig abrufbar, wenn Gesellschaft benötigt wird.


    Nun zur Situation: Der Ehemann hat wenig Zeit für sich und wünscht sich mehr Autonomie. Sie wiederum hat ein hohes Sicherheitsbedürfnis, stellt repetitive Fragen auf die er sehr verständnisvoll eingeht. Wenn er kurze Besorgungen erledigt, begibt sie sich auf die Suche nach ihm u.a. im Dorf und ruft nach ihm (hat Angst vor dem Alleinsein). Das Frühstück wird oft frühzeitig beendet, sie möchte das Geschirr zeitig reinigen und drängt dann entsprechend. Gemeinsame Aktivitäten nehmen einen artifiziellen-systematisierten Charakter an. Gelegentlich kommt es auch zur aggressiven Handgreiflichkeit ihm gegenüber (Anspannung, verminderte Impulskontrolle). Wenn er Zeit für sich wünscht, reagiert sie mit Unverständnis. Er möchte die Dinge mehr genießen zu können. Er ist überfordert und es kommt zu Fehlern im Alltagsablauf, da er emotional dadurch sehr beansprucht ist.


    Eine beispielhafte Konversation:

    A: In 5 Minuten machst du das Essen, ja?

    B: Ja, mache ich. Ich werde dir Bescheid geben.

    A: Machst du gleich das Essen, wenn der Film in 4 Minuten endet?

    B: Ja.

    A: Ich bin mir immer nicht sicher, ob du Essen machst.


    Er selbst führt sich stets vor Augen, dass die Erkrankung Ursache für diese Verhaltensweisen ist. Viele Strategien wurden bereits ausprobiert. Validation scheint nicht für Milderung zu sorgen. Ich habe Spiele mit ihr gespielt (für Ablenkung gesorgt), sodass er sich in der Zwischenzeit für seine Tätigkeit kümmern kann. Sie bricht die Spiele teilweise ab, steht auf, um nachzusehen, was er tut. Sie selbst sagt, dass sie sehr gesellig ist und das Alleinsein nicht gut tut.

    Wie kann man die Ungeduld, handlungsleitende Art und Vergewisserung seiner Ehefrau so mildern, dass er Zeit für sich hat? Wie kann ich ihn entlasten? Beratungen hat er selbstverständlich schon in Anspruch genommen, aber all diese Optionen erweisen sich doch als recht absehbare und generalisierte Hilfestellungen (Bewegung, Struktur, gesunde Ernährung, Verständnis usw.). Wirksame Strategien wären nun sehr entlastend. Die Welt, Ausflüge werden zum Minenfeld aufkommender Unsicherheiten. Die einzige freie Vakanz, die er für sich hat, sind zwei Tage in der Woche, bei der seine Frau in der Tagespflege betreut wird.


    Ich danke vorab - ich freue mich auf eure Hilfestellungen.


    Liebe Grüße,

    Helfendehand

    • Offizieller Beitrag

    Hallo Helfendehand,

    leider gibt es keine guten Rezepte gegen das "Klammern" der Erkrankten - außer, die Last auf mehrere Schultern zu verteilen... also zum einen eventuell über einen dritten oder auch vierten Tag Betreuung in der Tagespflege nachzudenken, oder Angehörige, Freunde und demenz-affine Ehrenamtler als neue feste Bezugspersonen einzuführen.

    Geht es der Frau in der Tagespflege gut? Kann sie sich auf die Angebote einlassen, kriegt man sie dort von der Fixierung auf den Ehemann abgelenkt, hat sie als gesellige Person Freude an den Außenkontakten? Dann ist das sicher die beste Option.

    Ich habe auch einmal gehört, dass es für manche besser zu ertragen ist, wenn der pflegende Partner regelmäßig, wie nach einem Stundenplan, "frei" hat und eine Auszeit für sich genießen darf... und sich in dieser Zeit regelmäßig eine ebenfalls möglichst feste Bezugsperson um den/die Erkrankte kümmert und am besten Aktivitäten anbietet, die ihm/ihr schon immer Freude bereitet haben oder mit einer Art "Belohnung" einhergehen (Viele Menschen mit Demenz lieben ja beispielsweise Süßes und gehen daher gerne ins Café oder in eine Eisdiele..).

    Als Außenstehende Helferin, die Sie ja offenbar sind, würde ich ausprobieren, ob es einen Unterschied macht, WO Sie sich um sie kümmern: Vielleicht erinnert zuhause alles an ihren Mann und verstärkt die ängstlich-Sicherheits-suchende Bindung... während vielleicht ein Spaziergang an einem sie interessierenden Ort (Mag sie Tiere, Kinder, Natur, geschäftiges Treiben?) sie etwas besser ablenken könnte?

    Außerdem würde ich mir Gedanken über das WAS machen - also über die Aktivitäten, die Sie ihr während der gemeinsamen Zeit anbieten. Ich weiß ja nicht, wie alt die Dame ist, aber vielleicht empfindet sie Spielen als zu kindisch und würde sich eher von einer "erwachseneren" Tätigkeit fesseln lassen? Was konnte oder kann sie noch gut? Wobei könnte sie Ihnen helfen? Wenn man Menschen mit Demenz das Gefühl gibt, dass sie einen unterstützen können bei etwas, das man selber (wenigstens vermeintlich) nicht so gut beherrscht, stärkt das ihr Selbstbewusstsein und lenkt sie wenigstens vorübergehend ab.

    Manche schwören auch auf die "Zettel-Methode", wenn der/die Betroffene noch lesen kann: Sie bereiten für die Zeit ihrer Abwesenheit eine Erinnerung bzw. einen "Sicherheitsanker" vor (etwa des Inhalts: Bin gerade bei der Physiotherapie, komme um 17:00 Uhr zurück. Bis gleich, Kuss, Peter). Probieren Sie es aus, mehr als schief gehen kann es nicht...


    Ich drücke Ihnen die Daumen, dass Sie einen gangbaren Weg finden um ihn zu entlasten!


    Freundliche Grüße

    S. Sachweh

    • Offizieller Beitrag

    Hallo Helfendehand, neben den pragmatischen Lösungen von Frau Sachweh könnte Ihnen vielleicht eine grundsätzliche Information zum Krankheitsbild helfen.


    Die frontotemporalen Demenz (FTD) greift infolge der zunehmenden Hirnschädigung besonders die Sprache, die Persönlichkeit und die Fähigkeit der Selbstkontrolle / Selbststeuerung an. Mit unseren Mitarbeitenden suche ich dann nach einer Verstehenshypothese für das Verhalten.

    So wie Sie den typischen Dialog beschreiben möchte ich folgenden Erklärungsversuch beisteuern: Vermutlich hat die FTD im Stirnhirn ein Kontrollzentrum zur Bewältigung der Angst oder Verunsicherung zerstört. Der Ehemann kann die Aufgabe des Gehirns übernehmen und weiterhin geduldig machen, was früher dieses Kontrollzentrum konnte, immer wieder die Antworten zur Versicherung geben. Hier könnte auch die Validation helfen, z.B. "Du willst Dich versichern, dass ich mich um das Essen kümmere?"


    Das Bild (wir übernehmen die Aufgabe des zerstörten Gehirns) hilft bei der notwendigen Gelassenheit, - das kann lange dauern, aber oft habe ich das Gefühl, als würde ein tiefes Urvertrauen irgendwann an die Stelle der Angstkontrolle treten.

    Wenn Sie eine passende Erklärung für die erkrankte Dame finden, schreiben Sie es uns diese bitte.

    Ihr Martin Hamborg

    • Offizieller Beitrag

    Hallo Helfendehand,

    Sie schreiben, dass die Ehefrau mit Unverständnis reagiert, "wenn er sich mehr Zeit für sich wünscht".

    Verständnis von einer demenzkrenken Frau zu erwarten, ist wahrscheinlich auch illusorisch. Ich glaube, dass der Ehemann mehr steuern muss, wenn seine Bedürfnisse zu kurz kommen. Das können - wie Frau Sachtweh schon vorschlug - ein oder mehrere zusätzliche Tage in der Tagespflege sein, eine zusätzliche Betreuungsperson oder mehr außerhäusige Aktivitäten mit den anderen Bezugspersonen. Das würde dem Ehemann zumindest für einige Stunden Luft verschaffen.

    Viele Grüße von

    Klaus Pawletko

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