Handelnde Personen:
H. 91, mit vaskulärer Demenz;
A. seine Tochter;
J. 88, seine Gattin;
ich, der Schwiegersohn
24. Dezember 2020
Heiligabend, Plätzchenteller zum Kaffee.
Ich greife als erster zu und sage: „Das ist das Größte!“
H. mustert genau das Angebot, greift nach der gleichen Sorte und sagt: „Das ist noch größer!“
27. Dezember 2020
Weihnachten ist vorbei. Beim Mittagessen verabreden wir uns nach der Mittagsruhe zum Sonntagsspaziergang. Hat H. das mitbekommen? „Nein“, sagt er: „Wenn ich esse, dann esse ich. Ich muss mich konzentrieren, dass keine Nägel im Essen sind.“
5. Januar 2021
Wöchentlich einmal kommt eine Physiotherapeutin zu H. nach Hause, um mit ihm Übungen zu machen. Er liegt im Bett und schläft. Als er gesagt bekommt, dass gleich seine Therapeutin kommt, meint er: "Wenn ich jetzt turnen muss, dann schaffe ich ja heute nichts mehr. Dann bin ich ja total kaputt." Er muss nicht turnen.
24. Januar 2021
H. bewegte sich zu Mittag nur mühsam aus seinem Bett. Im Morgenmantel isst er mit uns Kalbsbäckchen mit Linsen und Pomelo als Nachtisch. Dann fragte ich ihn: "Und jetzt? Willst du dich anziehen oder legst du dich wieder hin?" Er: "Ich kann mich anziehen... " macht eine Pause - "...dann leg ich mich wieder hin."
1. Februar 2021
Am Abendtisch sprechen wir über unsere Lebenshaltungskosten. Der Kassensturz zeigt, dass wir im Corona-Jahr 2020 für vier Personen deutlich weniger als das Doppelte der Kosten für zwei Personen im Jahr 2019 ausgegeben hatten. H. sagt: „Das liegt daran, dass ich mich so zurückgehalten habe!“
9. Februar 2021
A. versucht bei H. den Blutdruck zu messen, aber das Gerät streikt. Ich werde zu Hilfe geholt, tausche die Batterien aus und stöpsele das Luftkabel in die richtige Buchse. Als die Messung endlich startet, meint H. zu seiner Tochter: „Es ist doch gut, einen Diener zu haben.“ Sie antwortet: „Ja, ich habe einen Diener, aber du hast zwei!“
9. Februar 2021
Nach einem gemeinsamen Spaziergang durch den Schnee setzen wir uns zu Mittag und essen die dicke Gemüsesuppe, die ich vorbereitet hatte. Zum ersten Mal überhaupt hat H., der immer schweigend und konzentriert isst, seinen Teller als erster leer. Alle sind erstaunt, und H. sagt: „Ich habe ja auch nicht gesprochen!“
6. März 2021
Zur Zeit nimmt H. zu jedem Abendessen auch eine Eisentablette. Als wir unsere Teller (Salat, Lammwürstchen und Brot) leer hatten, deutet J. auf die Eisentablette neben seinem Teller und sagt zu ihm: „Deine Tablette hast du noch!“. Beim Zurücknehmen der Hand wirft sie beinahe ihr halbvolles Wasserglas um. H. sagt zu ihr: „Dein Wasser hast du noch!“
29. März 2021
Beim Abendessen nimmt H. seine heutige Pillenbox mit den Fächern für Morgens, Mittags und Abends in die Hand, sieht, dass die ersten beiden Fächer leer sind und sagt: „Und die sind für Abends! J. sagt zu ihm mit Nachdruck: „Jetzt ist aber Abend!“ H. verteidigt sich: „Woher soll ich das wissen, wenn ich nicht auf die Uhr geschaut habe?!“
9. April 2021
Freitag Abend gab es eine große Forelle mit Kartoffelsalat und hinterher Eis. Wie unterhalten uns noch über die neuesten Corona-Erkrankungen in unserem Bekanntenkreis. H. dreht dabei Däumchen. J. bemerkt das und fragt: „Kannst du auch anders herum?“ Er antwortete: „Lieber Gott, ich bin nicht dumm, ich kann auch noch anders herum!“
11. April 2021
H. trinkt gerne mal ein Gläschen und der Arzt hat ihm das ausdrücklich erlaubt. Wenn aber seiner Gattin nicht nach Alkohol ist, muss auch H. abstinent leben. Nach dem Abendessen hatten A. und J. was im Keller zu erledigen. Da hole ich ein Kirschwasser und sage: „Die Damen sind weg, da genehmigen wir uns einen!“ Gesagt, getan. Dann kommen die Frauen zurück und H. fragt sie: „Und – habt ihr auch ein Schnäpschen bekommen?“
21. Mai 2021
Es gibt gebackene Forelle mit Linsengemüse zum Abendessen. Das Gespräch kommt auf den Nachbarn, der mit 80 Jahren noch selbständig beruflich tätig ist. Ich meine: "Dann hat er wohl schlecht vorgesorgt!" und nach einer Pause ergänze ich: "Ich habe gut vorgesorgt! Ich habe eine kluge Frau geheiratet." A. lacht und H. meint: "Dann habe ich wohl auch eine kluge Frau geheiratet." Wir lachen alle und seine Gattin strahlt.
11. Juni 2021
H. sitzt im Schatten auf der Terrasse. Ich bringe ihm auf einem Teller eine Handvoll Kirschen und einen zweiten Teller für die Kerne. Als ich später wieder komme, hatte er nicht alle Kirschen gegessen – sie waren nicht besonders süß -, aber alle Stiele hatte er auf dem Abfallteller parallel nebeneinander als Rechteck abgelegt und die Kirschkerne in einem ausgefüllten Kreis gesammelt.
25. Juni 2021
H. zieht sich Schuhe an. Das fällt ihm schwer, und das dauert ein bisschen. Dabei fragt er: „Wohin gehen wir denn?“ A.: „Wir gehen zusammen zur Hausärztin.“ Er: „Dann muss ich mir vorher die Nase putzen!“ Wir lachen. A. verabschiedet sich von mir: „Ich gehe jetzt! Ich bin bald zurück.“ Ich: „Schön!“ H. ruft aus dem Flur mir zu: „Ich komme auch wieder – - glaube ich!“ Ich rufe zurück: „Das freut mich!“. H. leise zu A.: „Er freut sich, wenn ich wiederkomme!“
1. Juli 2021
Wir kommen frühmorgens ins Schlafzimmer, um J. zum 87. Geburtstag zu gratulieren. Sie liegt noch zu Bett, aber H. sitzt schon ausgehfertig in seinem Sessel. Er trägt über dem Hemd seine Strickjacke, über der Strickjacke seine Daunenweste, über der Daunenweste seine Walkweste, über der Walkweste seine Lodenjacke. Zu aller erst darf er seiner Gattin den Geburtstagsstrauß überreichen. Angesprochen auf seine vielen Jacken und Westen zählt er sie sorgfältig vor seinem Bauch nach und sagt dann: „Aber frieren tue ich nicht!“
15. Juli 2021
H. werden von A. die Fingernägel geschnitten. Zufrieden betrachtet er seine Hände und sagt: "Die Nägel sind jetzt so kurz wie bei ... bei ... der Bundeswehr - nur jünger!" "Meinst du die Hitlerjugend?" „Ja!- Wie bei der Hitlerjugend."
29. Juli 2021
Thema beim Abendessen: Rentenalter. Wir stellen fest: A. hat noch vier Lohnarbeitsjahre vor sich. Ich frage H.: „Dann bist du 95. Schaffst du das?“ Er überlegt und sagt: „Aber sicher!“ und nach einer Pause: „Ich rege mich auch über nichts mehr auf!“
4. August 2021
H. sitzt mit A. im Wartezimmer der Ärztin. Man sitzt da länger und H. studiert den Anhänger an seinem Rolllator: „H. Sons ist Demenzpatient. Falls Sie ihn ohne Begleitung antreffen, rufen Sie bitte diese Telefonnummer an: ...“ H. fragt seine Tochter: „Hast du das schon gelesen?“ A.: „Ja, es ist meine Telefonnummer!“ Er: „Dann hoffen wir, dass das nicht passiert!“
10. August 2021
J. vermisst ihre Lesebrille, und ich helfe suchen – ohne Erfolg. Im Spaß frage ich H.: „Hast du ihre Brille weggetan?“ Er weist das entrüstet von sich. Dann finde ich H.s Brille auf seinem stummen Diener. – Und er trägt J.s Lesebrille auf seiner Nase.
15. August 2021
Sonntag Morgen. A. und ich waren schon vor sechs Uhr losgefahren, um im Badesee zu schwimmen. Zurückgekehrt bereite ich das Frühstück, und A. hilft H. beim Ankleiden. Der beschwert sich: „Wenn du hier als Zofe arbeiten willst, musst du dir erst mal die Finger anwärmen!“
22. August 2021
Nach dem Sonntagabendessen gibt es Tiefkühl-Eis. A. sagt: "Ich bin gespannt, wie die neue Sorte schmeckt!" H. sagt: "Ich auch! Deshalb fange ich gleich an zu essen."
8. September 2021
Zum Abendessen gibt es Linsensalat an Ochsenherztomaten zu Iberico Rücken mit einem Schluck spanischem Rotwein. Die Gattin fragt H.: „Und – schmeckt es dir auch so gut?“ Er: „Stör‘ mich nicht!“und isst weiter.
30. September 2021
Wieder mal hatte H. eine Schürfstelle am langen (zweiten) Zeh. Für ihn als Diabetiker kann das zu Blutvergiftung und schlimmstenfalls zur Amputation des Fußes führen. Die wunde Stelle am Zeh wurde eine Woche lang täglich geprüft und versorgt – ohne sichtbaren Erfolg. Ich fühlte daher mal mit den Fingern in seinen Hausschuhen, ob die bei den Zehen eine raue Stelle haben. Ich fand im Hausschuh keine raue Stelle, aber ganz vorne eine zerknüllte alte Socke. Die andere Socke steckte ebenso zerknüllt im anderen Hausschuh.
3. Oktober 2021
H.s Nase läuft den Tag über ohne Unterlass. Darum stecken in allen seinen Taschen Taschentücher. Als er beim Abendessen zum dritten Mal nach einem zerknüllten Papiertaschentuch greift, um sich die Nase zu wischen, ziehe ich aus seiner Westentasche ein unbenutztes Stofftaschentuch – frisch gewaschen, gebügelt und gefaltet. „Das habe ich als Reserve!“, sagt er und steckt es wieder weg.
12. Oktober 2021
Heute kam zum ersten Mal eine externe Pflegekraft, um H. zu rasieren, zu duschen und anzuziehen. Im Vorfeld hatte J., deren Aufgabe das bisher war, hundert Gründe vorgebracht, warum diese externe Dienstleistung für sie, für H. und für uns beide nicht notwendig und nicht gut sei. Der Pfleger kam herein, stellte sich mit Namen vor und sagte zu H., der noch im Bett lag: „Herr S., ich bin gekommen, um Sie zu duschen!“ H. stand auf und sagte: "Dann legen wir mal los!“
5. November 2021
Zu Mittag gab es frische Rinderbrühe mit Einlage und Obstjoghurt zum Nachtisch. A. fragt H.: „Wie fühlst du dich?“ Er: „Ich bin satt!“ A.: „Und wie kann dein Tag noch besser werden?“ Er: „Mit ein bisschen Schlaf.“
14. November 2021
Samstagabend gab es Brathähnchen mit Süßkartoffeln. H. steckt noch Fleisch zwischen den Zähnen und soll sich Zähne und Gebiss putzen. Nach einer Weile sieht A. im Bad nach dem Rechten. H. putzt noch an seinem Gebiss und meint: „Aus dem Gillette war nichts mehr rausgekommen!“ „Macht nichts!“ sagt A. und wirft die leere Dose Rasierschaum in den Abfall.
28. November 2021
Am 30. 11. hat H. Geburtstag. Wir rechnen ihm vor, dass er bis zum Jahr 2000 schon 70 Jahre gelebt hatte und dass dann noch 21 Jahre dazugekommen sind. Mit einigem Überlegen stellt er fest, dass er dann 91 Jahre alt wird. Und nach einer Pause sagt er: „Das schafft nicht jeder!“