Übertriebener Egoismus oder Selbstschutz?

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  • Mein Buchtipp zu Narzissmus

    Wie schleichendes Gift von Christine Merzeder


    Ich war fassungslos, wie jemand meinen Vater so gut beschreiben kann. Oder anders ich habe sehr an der Lektüre rumgeknautscht.

  • Guten Morgen Grobi, Guten Morgen alle anderen.


    grobi , das klingt nach einem ganz ähnlichen Effekt, den ich beim Lesen meines Buches hatte. Ich hoffe, es hat Dir genauso helfen können, wie mir damals.

    Und ja, Deine Fassungslosigkeit kann ich zu 100% nachvollziehen.


    Reißleine ziehen ist immer gut - egal wann. Hauptsache man kommt noch einigermaßen gebremst und sachte am Boden an. Von dort an kann es dann mit einem anderen Mindset weitergehen. In Deinem Fall mündete dies in einem Kontaktabbruch. (Soweit ich das richtig verstanden habe.)


    Kurzer Sprung zu einer hypothetischen Frage an alle:


    Was würde passieren, wenn ich die Polizei informiere?


    "Hallo und schönen guten Tag. In 12345 Musterstadt, Musterstr. 2 wohnt ein älterer Mensch, der so langsam eine Gefahr für sich und andere wird.

    - Er kann Tag- Nachtzyklen nichtmehr erkennen, geschweige denn die Uhr verstehen.

    - Er lässt Wohnungs- und Haustür sperrangelweit offen, aus Angst, er könnte sich aussperren. Ebenfalls zu jeder Tages- und Nachtzeit.

    - Er tyrannisiert die Nachbarschaft und Dienstleister durch Anrufe oder Besuche (Arzt, Friseur, Fußpflege, Bank...) ebenfalls geschäftszeitenunabhängig.

    - Er schreit und flucht lautstark (gegen sich selbst und sein "scheiß Leben") so gut wie ununterbrochen. In einer hohen Lautstärke und auch innerhalb von Ruhezeiten.

    - Es ist nurnoch eine Frage der Zeit, bis der Klassiker -Herd angelassen- passiert"


    Hintergrund: Sein Vermieter rief MICH wiederholt an, ich solle endlich was unternehmen, drohte mir mit rechtlichen Schritten. Nachdem ich Ihn aufgeklärt habe, dass ich gesetzlich zu nichts verpflichtet bin, und er sich das Geld sparen kann, empfahl ich ihm und allen anderen Betroffen, Protokoll zu führen Und zwar wann er was gemacht hat. Und bei jedem mal die Polizei zu rufen. (Hintergrund: Klar - die können wohl auf Anhieb nichts machen, aber die schreiben bei jedem einzelnen mal einen Einsatzbericht/-protokoll. Und wenn diese von der Anzahl her genug sind, können sie mMn beim Amtsgericht vorgelegt werden, um ein "dringlich" diesem wahnsinnigen Eintopf als Zutat hinzuzufügen.


    Er hat das Ende seiner Geschichte schon in den 80´ern bewusst geschrieben. Mit dem Entschluss, eremitenhaft zu leben. Alleine. Keine Freunde, Keine Partnerin.

    Von da her -und auch von dem was mir als Kind/Teen/Twen widerfahren ist- habe ich absolut kein Mitleid mit ihm. Aber ich habe Mitleid mit den Menschen, die unter seiner Art leiden (s. o.). Auch um seine Wohnung mache ich mir massiv Sorgen.


    Schon wieder so viel geschrieben - sorry.

    Also - was würde passieren, wenn ich die Polizei einschalte? Reicht das passierte für eine Zwangseinweisung? Falls nicht - was müsste dafür passieren? Physisch gewalttätig wird er meines Wissens niemandem gegenüber.


    gglg nocheinSohn

  • Hallo Sohn3,

    probier es halt aus, die Polizei zu rufen. Ich glaube, sie kann nichts tun. Aber gegen den eigenen (kranken) Vater die Polizei in Stellung bringen zu wollen, kommt mir reichlich daneben vor. Du willst die Nachbarn vor einem dementen alten Mann schützen, aber wie kann dem Demenzkranken geholfen werden? Das fragst du nicht.

    Von mir sind für dich keine Antworten mehr zu erwarten.

    Buchenberg

    • Offizieller Beitrag

    Hallo nocheinSohn und willkommen im Forum auch von meiner Seite.

    Schön zu lesen, wie schnell Sie die Frage nach dem "Egoismus" klären konnten, auch dank der vielen kompetenten Beiträge.

    Mit Ihrer letzten Frage haben Sie einen Teil meiner Antwort schon vorweggenommen. Leider gibt es häufig Menschen wie Ihren Vater, die vehement und aggressiv Hilfe ablehnen und sich gegen jede Einmischung wehren, solange bis gar nichts mehr geht.

    Oft haben wir uns hier im Forum dazu ausgetauscht, denn es ist eine enorme Belastung das sichtliche Leid aushalten zu müssen, ohne etwas tun zu können.


    Wir müssen es aushalten - ob wir wollen oder nicht. Sie haben alles so gemacht, wie wir es hier auch empfehlen:

    - Sie sind aus der Zwickmühle ausgestiegen und vergewissern sich das gute Gewissens

    - Sie setzen klare Grenzen und blockieren das Telefon und rufen von sich aus an und sprechen so lange, wie es für beide Seiten gut ist

    - Sie haben erfahren, dass es bei Ihrem Vater ankommt, wenn Sie emotional und entschlossen reagieren. In diesem Stil können Sie weiterhin Probleme ansprechen, auch wenn es keine kurzfristige und unmittelbare Lösung gibt

    - Sie nehmen das Umfeld Ihres Vaters in die Pflicht und lassen sich nicht vor den Karren von Nachbarn oder dem Vermieter spannen. Je häufiger die Polizei vor Ort ist, um so schneller wird das Gericht die Akte wieder öffnen. Wenn Sie von sich aus die Polizei informieren ist das auch gut, denn die Polizei muss zu jedem Einsatz und solche Einsätze ohne Aussicht auf Erfolg sind belastend - da helfen Hintergrundinformationen vom Sohn, der leider genau so wenig machen kann.

    - Sie sammeln Ihre Kraft und bleiben damit ein guter Vater für Ihren Sohn. Wenn Sie sich unter Druck setzen, denken Sie bitte an das Prinzip "Weniger ist mehr" - wir haben es in den letzten Monaten häufig im Umgang der Töchter von narzistischen Müttern mit Demenz diskutiert.


    Wenn Sie Zeit finden, können Sie den "PlanB" vorbereiten. Sie können sich Einrichtungen anschauen, in denen Ihr Vater als (bekennender) Eremit leben könnte. (Ein Einzelzimmer ist mittlerweile üblich und niemand darf gezwungen werden, an Gemeinschaftsangeboten teilzunehmen).

    Vermutlich wird Ihr Vater nicht freiwillig umziehen, aber nach einem Krankenhausaufenthalt, nach einer Räumungsklage oder einer Zwangseinweisung (nur bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung) ist es sehr hilfreich, wenn Sie schon eine Perspektive haben. Es kann sogar sein, dass sich Ihr Vater dann für den PlanB entscheidet, wenn es aussichtslos wird, auch wenn er sich zunächst massiv dagegen wehrt. Aber die Vorstellung kann innerlich weiter wirken: Es gibt einen Platz, an dem ich als Eremit mit punktueller Pflege leben kann.

    Alles Gute, Ihr Martin Hamborg

  • Du willst die Nachbarn vor einem dementen alten Mann schützen, aber wie kann dem Demenzkranken geholfen werden? Das fragst du nicht.

    Das habe ich ganz anders gelesen: nocheinSohn will absolut seinen Vater auch schützen (siehe z.B. Hinweis auf die Sorge mit dem vergessenen Herd), aber er sucht Wege, wie er das tun kann und wollte eben wissen, ob auch Kontakt mit der Polizei da eine Hilfe sein kann - wie es Herr Hamborg eben auch positiv bestätigte.

  • Hallo Buchenberg, ich glaube .... momentan spricht das Motto "Jeder hat sein Päckchen zu tragen." (hier mal nicht gegendert) aus vielen unserer Posts.


    Und ich habe den Beitrag von nocheinSoh auch so verstanden wie ecia und Herr Hamborg.


    Die Demenz eines Angehörigen gehört zu den Grenzerfahrungen unseres eigenen Lebens. Außerdem sind die äußeren Umstände nicht optimal eingerichtet. Man steht also vor der sichtbaren Katastrophe mit wahrhaft gefesselten Händen und überall sind Mauern, so dass man meint, nichts tun zu können.


    ZUdem sind Demente höchst unterschiedlich (in der Demenz oder auch schon vorher) und unsere Beziehungen zu ihnen sind ebenfalls unterschiedlich.


    Ich lese immer gerne, wie warmherzig es in ihrer Familie mit zwei dementen Personen zugeht, wie sie beide unterstützen und umsorgen.


    Obwohl wir mit meiner Mutter auch ein gutes Verhältnis hatten, konnte dieses ihrer Demenz und ihrer dementen Persönlichkeit nicht ausreichend standhalten. Wir brauchten ein Pflegeheim, in dem es ihr jetzt gut geht.


    nocheinSohn beschreibt ein wirkliche problematisches Verhältnis zu seinem Vater, spricht aber trotzdem von seinem (dennoch) Pflichtgefühl und seinem schlechten Gewissen ihm gegenüber ...


    Ich denke nicht, dass die Idee mit der Polizei sich gegen den Vater richtete ...


    Mir fällt übrigens ein, dass eine gute Bekannte in deren Haus sich eine stark demente Frau befand (völlig verwahrlost, abgemagert, absolut keiner Hilfe zugänglich, auch wie ein Eremit lebend) sich am Ende keinen anderen Rat mehr wusste als die Polizei zu rufen. Ich kann mich nicht an den genauen Ablauf erinnern .... aber letztlich bekam die Frau Hilfe in ihrer Hilflosigkeit und meine Bekannte (eine absolut hilfsbereite Person) konnte endlich beruhigt sein.


    Seien wir verständnisvoll und großzügig hinsichtlich der Ausnahmesituation, in der wir uns ja alle befinden. Das wünsche ich mir sehr, weil gerade hier Gedanken und Probleme auf den Tisch gelegt werden dürfen, die anderswo verborgen bleiben/keinen Raum haben.

  • Ich kann das Motiv von ihr, nocheinsohn , auch gut nachvollziehen. Obwohl die Beziehung phasenweise sehr gestört war, versuchst du nun Wege zu finden, ohne selbst daran zu zerbrechen.

    Vieles kann man vllt auch erst nachvollziehen, wenn man es selbst erlebt hat, also wie sehr eine fehlende gute Basis aus Kindheit und Jugend im weiteren Leben nachwirkt. Ich kann es, leider.. und das soll wahrlich kein Jammern sein, nur Erklärungsversuch.

  • Hallo Sohn3,

    probier es halt aus, die Polizei zu rufen. Ich glaube, sie kann nichts tun. Aber gegen den eigenen (kranken) Vater die Polizei in Stellung bringen zu wollen, kommt mir reichlich daneben vor. Du willst die Nachbarn vor einem dementen alten Mann schützen, aber wie kann dem Demenzkranken geholfen werden? Das fragst du nicht.

    Von mir sind für dich keine Antworten mehr zu erwarten.

    Buchenberg

    Guten Tag, Buchenberg.


    Ich bin hier offen für alles, auch Meinungen, welche meine hypothetische Idee für "daneben" halten. Dennoch danke ich Ihnen für Ihre Zeit und Ihren Beitrag.



    Sehr geehrter Herr Hamborg,


    Auch Ihnen ein besonderes Danke, weil Sie so ausgiebig geantwortet haben.

    Meine "Idee" mit der Polizei; und der letztlich daraus folgenden "Raus aus der Wohnung - jetzt doch unter Zwang" kommt bei mir ganz sicher nicht von irgendwo. Und Spaß habe ich dabei ganz und gar nicht.

    Aber wenn man alle Pläne schon durch hat... nichts geholfen hat, man weiter auf Granit stößt, dann werden die Optionen gegen Ende des Alphabets doch schon gering. Für die Zeit "wenn garnichtsmehr geht".


    "Sie nehmen das Umfeld Ihres Vaters in die Pflicht".

    Dem ist nicht so, tut mir leid, dass ich dahingehend verneinen muss. Ich nehme sie (das Umfeld) meiner Meinung nach nicht in die Pflicht, sondern gebe denen lediglich Tips, was sie tun können, um sich selbst vor Anrufen oder Besuchen mitten in der Nacht zu schützen. In einer Handvoll dieser Menschen hat mein Vater schon erfolgreich eine Art Helfersyndrom aktiviert. WELCHES (und das ist das traurige) erfolgreich aktiviert wurde.


    Danke Herr Hamborg, vor allem für die vielen Infos in Ihrem letzten Abschnitt.



    Das habe ich ganz anders gelesen: nocheinSohn will absolut seinen Vater auch schützen (siehe z.B. Hinweis auf die Sorge mit dem vergessenen Herd), aber er sucht Wege, wie er das tun kann und wollte eben wissen, ob auch Kontakt mit der Polizei da eine Hilfe sein kann - wie es Herr Hamborg eben auch positiv bestätigte.

    Danke ecia25. Ich hatte auch für einen moment im Kopf "hat er alles gelesen und verstanden"? Unterm Strich will ich die Mühlen der Behörden nur etwas anschubsen, damit die Zeit in der mein Dad auf "Ideen" kommen kann reduziert wird.

    WEIL: ALLES ANDERE FRUCHTET NICHT UND PRALLT AN SEINER STURHEIT AB (leider. Und sorry für die Grußbuchstaben. :))



    ...

    Mir fällt übrigens ein, dass eine gute Bekannte in deren Haus sich eine stark demente Frau befand (völlig verwahrlost, abgemagert, absolut keiner Hilfe zugänglich, auch wie ein Eremit lebend) sich am Ende keinen anderen Rat mehr wusste als die Polizei zu rufen. Ich kann mich nicht an den genauen Ablauf erinnern .... aber letztlich bekam die Frau Hilfe in ihrer Hilflosigkeit und meine Bekannte (eine absolut hilfsbereite Person) konnte endlich beruhigt sein.

    ...

    Vielen Dank schwarzerkater. Für Deinen ganzen Post. Insbesondere für den zitierten Absatz. Das liest sich sehr schön. Auf meinen Fall gemünzt muss ich jedoch entgegnen: Mein Dad kann mit einem Ziffernblock nichts mehr anfangen.

    1-1-0 wäre schon zu viel.

    Er kennt nur die Wahlwiederholungstaste noch.



    ...

    Vieles kann man vllt auch erst nachvollziehen, wenn man es selbst erlebt hat, also wie sehr eine fehlende gute Basis aus Kindheit und Jugend im weiteren Leben nachwirkt. Ich kann es, leider.. und das soll wahrlich kein Jammern sein, nur Erklärungsversuch.

    ...

    Sehr schön auch wieder von Dir zu lesen, Rose60!

    Du hast vollkommen Recht. Jemand der unter normalen, ja sogar Bilderbuch-Verhältnissen groß geworden ist, kann man nur neidlos bewundern. Diejenigen können sich sehr glücklich schätzen.

    Das bedeutet aber auf der anderen Seite auch, dass manche dieser Menschen -selbst wenn sie in einem Fass voller flüssiger Empathie baden würden- sich damit schwer tun, manches was hier geschrieben wird, nachzuvollziehen. Was sicherlich nicht als Vorwurf gilt. Wie gesagt: Das Schicksal meinte es mit Kindern aus guten Elternhäusern einfach sehr gut. :)


    Gehabt euch alle wohl!

    Auch Herr Buchenberg.



    Menschen sind unterschiedlich. Meinungen sind unterschiedlich. Ein völlig natürlicher Aspekt unseres Daseins auf diesem Planeten. :)

  • Mein Dad kann mit einem Ziffernblock nichts mehr anfangen.

    1-1-0 wäre schon zu viel.

    Er kennt nur die Wahlwiederholungstaste noch.

    Hallo nocheinSohn, oh bevor Missverständnisse auftauchen, in dem zitierten Fall hat die Nachbarin und nicht die demente Person selbst die Polizei gerufen, weil sie nicht mehr mit anschauen mochte, dass da jemand buchstäblich verhungert und keine Hilfe in ihre Wohnung lässt. Und letztlich konnte diese Aktion das Ruder herumreißen. Das fiel mir angesichts deiner Idee (Polizei rufen) nur ein. Ich dachte, es sei ein gutes Beispiel ...

    Einen schönen Abend noch.

  • Danke, Schwarzerkater.


    Dabei habe ich mir deinen Text zweimal durchgelesen und ihn doch falsch verstanden. Sorry, mein Fehler.


    Dir auch noch einen schönen Abend

  • Hallo "nocheinSohn",


    nach längerer Abwesenheit in dieser Community lese ich seit einiger Zeit still einige Beiträge mit und erkenne mich besonders in Deinen Schilderungen wieder.


    Deine Aussage:

    "Lass mich! Du tust mir weh! Ich leide emotional so sehr, Dich so dahinsiechen zu sehen, LASS MIR LUFT ZUM ATMEN!!!!" trifft es sehr genau.


    Das Thema Narzissmus nimmt mich gerade gewaltig in den Würgegriff und lähmt mich und macht mich handlungsunfähig.


    Es geht um meine 83jährige Mutter, die sich nach vier Klinikaufenthalten (jedesmal Notfall) nun auf meinen Wunsch hin in der Kurzzeitpflege aufhält, die nahtlos in die Vollzeitpflege übergehen wird. Nach jeder Entlassung der jeweiligen Klinik kam sie in desolater körperlicher und geistigen Verfassung nach Hause. Sie hat Pflegegrad 4 und erhielt nun endlich die offizielle Diagnose Demenz, Wahnvorstellungen, Hirnathrophie und beginnende Parkinsonerkrankung. Erst unser Hausarzt hat eine Einweisung in die Neurologie veranlasst. Meinen flehentlichen Bitten bei jedem Klinikaufenthalt das Thema Demenz aufzugreifen wurde einfach ignoriert.


    Nach ihrem vorletzten Klinikaufenthalt (Blutvergiftung durch einen Stent der im Körper gewandert ist und sich entzündete und Lungenentzündung) wurde sie nach Hause entlassen und ich erlebte die schlimmsten zwei Wochen meines Lebens. Als ich dachte, jetzt geht es zu Ende rief ich einen RTW. Die Sanitäter hätten sie auch mitgenommen, mich jedoch darauf aufmerksam gemacht, dass ihr Zustand für eine Klinik nicht schlimm genug wäre und ich sie noch in der selben Nacht wieder zu hause hätte.


    Meine Mutter wiegt aktuell ca. 100 kg und ist stark inkontninet. Als sie einen Demenzschub bekam und durch die Parkinsonerkrankung (wusste ich beides damals noch nicht) nicht in der Lage war sich zu bewegen, lag sie mehrere Stunden in ihrer durchnässten Windelhose und Bett. In dieser Verfassung gab ich ihr zu essen und trinken. Es war so unwürdig, so unbeschreiblich. In diesem Moment war mir klar, hier geht unsere gemeinsame Reise zu Ende. Endlich konnte ich mir es eingestehen; meine Grenze war schon lange überschritten. Nun will ich diese Verantwortung nicht mehr übernehmen.


    Nachdem mir die Heimleitung klar gemacht hat, dass eine Rückkehr ins häusliche Umfeld nicht mehr möglich sei, da ich als Laie keine 24/7 Versorgung leisten könnte, sah ich meine Chance gekommen nun endich die überdimensionale Verantwortung abgeben zu können und fühlte mich wieder einmal schuldig. Es ist ein kleine, privat geführte Einrichtung und ist auf dementielle Erkrankungen spezialisiert. Obwohl mir die Optik nicht zusagt (ich weiß, das ist nebensächlich) nehme ich bei jedem Kontakt (telefonisch wie persönlich) ein Wohlgfühl wahr, es fühlt sich richtig an. Selbst meine äußerst kritische und in meinen Augen verwöhnte Mutter ließ sich zu der Aussage hinreißen:"Die sind alle so lieb zu mir!"


    Mein aktuelles Problem ist, dass ich aufgrund unserer recht angespannten finanziellen Lage die Wohnung meiner Mutter kündigen sollte, da staatliche Unterstützung für das Pflegeheim und die Miete erforderlich sind.


    Als ich gestern die Kündigung schrieb, überfiel mich eine regelrechte Heulattacke.


    "Du hast nicht das Recht, Deiner Mutter das Zuhause zu nehmen!"

    "Wie kannst Du nur so herzlos sein?"

    "Das ist total übergriffig!" ... bin ich das nicht schon die ganze Zeit?

    Diese vernichtende Stimme in meinem Kopf ließ sich mit nichts zum verstummen bringen.


    Nachdem ich etwas gefasster war, rief ich in der Pflegeeinrichtung an. Als sich eine Schwester meldete, war es wieder vorbei mit meinen Nerven. Heulend erzählte ich ihr, dass meine Mutter bei meinem letzten Besuch zu mir sagte: "Das habe ich nicht verdient!" Mit ihrem Körper von mir abgewandt und mit geschlossenen Augen gab sie mir nur kurze und wenig positive Antworten auf meine Fragen. Nach 40 Minuten und dieser vernichtenden Aussage wollte sie wieder in ihr Zimmer - und ich war erlöst. Seitdem war ich ein nervliches Wrack. Die Schwester war fassungslos und entsetzt. Sie berichtete mir, dass sich meine Mutter ganz normal und freundlich verhalten, wohl ab und an über andere Mitbewohner/innen lästern würde, ansonsten alles normal.

    Ihre Kollegin hatte mir den Vorschlag unterbreitet, wenn meine Nerven bei einem Anruf wieder versagen, würde sie meiner Mutter liebe Grüße ausrichten. Darum bat ich auch in meinem aktuellen Telefonat.


    Dieses kurze Gespräch war für mich wie eine Absolution. "Ihre Mutter will Ihnen ein schlechtes Gewissen bereiten, das kommt vor!" Entscheidend war ihre Fürsorge mir gegenüber. Mir fiel ein tonnenschweres Gewicht von den Schultern. Danach hatte ich die Kraft mir nach Tagen wieder einmal ein warmes Essen zuzubereiten.


    Diese Kombination aus Narzissmus und Demenz macht mich irre. Ich sollte die Kündigung für die Wohnung spätestens am Montag abschicken und fühle mich hin- und hergerissen. Wenn mein "inneres Kind" die Regie übernimmt, bin ich kopflos, ohne Struktur und möchte am liebsten davonlaufen. Der ehemalige Betreuer meines inzwischen verstorbenen Stiefvaters, der ebenfalls an Demenz erkrankt war, unterstützt mich sehr und versucht geduldig, meine Bedenken zu zerstreuen.


    Ich besitze eine Vorsorgevollmacht. Im Internet las ich, dass für gewöhnlich die betreute Person ihre explizite Einwilligung für die Kündigung der Wohnung erteilen muss. Ist denn eine Demenzpatientin dazu noch in der Lage? Und schon wieder habe ich einen Grund, der mich davon abhält, die Kündigung auszudrucken und wegzuschicken.


    Ich habe ca. 10 Jahre lang zugelassen, dass diese beiden Menschen mit mehr und mehr Verantwortung aufgebürdet haben. Dass meine emotionale Verfassung aufgrund dessen nicht stabil sein kann, will ich mir einfach nicht eingestehen. Stark sein, durchhalten um jeden Preis, das war/ist meine Devise. Ich kann mir keine Kopf- und Hilflosigkeit in dieser Situation erlauben.


    Wer bisher mitgelesen hat, ein herzliches Dankeschön!


    Liebe Grüße



    Elisabetha

  • ... P.S.: Meine Mutter läuft (!) mittlerweile größtenteils mit Rollator und immer häufiger auch alleine zur Toilette. Ihre zuvor verwaschene Sprache ist inzwischen klar und deutlich geworden. Das Thema Inkontinenz wird dank geduldiger Pflegerinnen immer kleiner (zuvor Verweigerung trockene Wäsche anzunehmen und Schlagen nach dem Pflegepersonal).

  • Hallo Elisabetha,

    du hast eine enorme Aufgabe offensichtlich lange vorwiegend allein getragen, chapeau! Nun wurde diese zu groß und wie gut, dass dir das von professionellen Menschen gesagt und bestätigt wurde. Deine Mutter nimmt im neuen Umfeld offensichtlich eine gute Entwicklung auf, das spricht auch für das Pflegeheim, egal wie es optisch ist, da kann ich dir voll zustimmen.

    Nach so langer Zeit der Aufopferung einen betreuten Menschen in fremde Hände zu übergeben ist sehr schwer, wie ich zuverlässig weiß. Anfangs drehen sich (nach meiner Erfahrung jedenfalls) nahezu sämtliche Gedanken weiter darum und viele Zweifel an sich können aufkommen.

    Kannst du dir vorstellen, dir selbst nun professionelle Hilfe durch Pflegeberatung, psychologische Beratungsstelle o.ä.zukommen zu lassen?

    Mir selbst hat es ungemein geholfen, dass mir quasi von außen auch dieses "Weggeben", loslassen, über den Kopf eines auf uns angewiesenen Menschen zu entscheiden, zugestanden wurde.

    Deine Mutter ist doch nun nachgewiesenermaßen nicht mehr geschäftsfähig, von daher darfst du mit der Vollmacht auch einen Mietvertrag kündigen, wenn es nicht speziell in der Vollmacht ausgeschlossen wird - so ist jedenfalls mein Kenntnisstand. Nicht jeder betreute Mensch ist dement, von daher wird es die von dir genannte Einschränkung geben.

    Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass du durch diese lange krasse Belastung in einer Erschöpfungsdepression angekommen bist, das wird vorbeigehen, doch es geht mit prof. Unterstützung meist schneller.

    Sei gut zu dir! 😉

    Liebe Grüße

  • ... P.S.: Meine Mutter läuft (!) mittlerweile größtenteils mit Rollator und immer häufiger auch alleine zur Toilette. Ihre zuvor verwaschene Sprache ist inzwischen klar und deutlich geworden. Das Thema Inkontinenz wird dank geduldiger Pflegerinnen immer kleiner (zuvor Verweigerung trockene Wäsche anzunehmen und Schlagen nach dem Pflegepersonal).

    Hallo Elisabetha,

    du hast jetzt einen guten Ausweg aus deiner misslichen Lage gefunden. Ich drücke deiner Mutter die Daumen, dass du dabei bleibst und nicht "rückfällig" wirst.
    In den überwiegenden Fällen (wie auch bei deiner Mutter) zeigt sich: Professionelle Pflegerinnen können mit Demenzpatienten besser umgehen als die Angehörigen.

    Es gibt ja viele Gründe (gute wie schlechte), mit denen wir uns gegen diese Erkenntnis sperren (Ringen um Liebe und Anerkennung, Stolz, nicht zuletzt die Finanzierung - professionelle Pflege ist halt deutlich teurer als laienhaftes Selbertun), letztlich steht dann die Übergabe der Pflegeverantwortung an ein Altersheim immer nur als letzter und scheinbar schlechter Ausweg da.
    Das ist schade für beide Seiten: Schade für die Pflegebedürftige und schade für den pflegenden Angehörigen.
    Liebe Grüße!
    Buchenberg

    2 Mal editiert, zuletzt von Buchenberg ()

  • Liebe Rose60, lieber Buchenberg,


    ich danke Euch für Eure unglaublich schnelle Antwort. Es bedeutet mir sehr viel, ohne Erklärungen oder Rechtfertigungen meine Situation schildern zu können und verstanden zu werden.


    Es ist tatsächlich so, dass sich meine Gedanken nur um die aktuelle Situation kreisen. Trotz aller Ablenkungen will es mir nicht gelingen, den Kopf frei zu bekommen. Die Empfehlung nun professionelle Hilfe für mich in Betracht zu ziehen, nehme ich gerne auf. Ein neuer Kontakt, ein menschliches Gegenüber ist mir herzlich willkommen. Meine chronische Erschöpfung und der Zeitmangel haben mir in der Vergangenheit nicht die Möglichkeit gegeben, diese Hilfe früher zu suchen (ich wäre auch zum Loslassen nicht bereit gewesen). Heute habe ich Zeit, das ist für mich völlig ungewohnt.


    Das stärkste Gefühl, das mich umtreibt ist meine Angst. Ich fürchte den Zorn meiner Mutter, Ihre Ablehnung und Gefühlskälte. Als Kind machte mich dieses Verhalten kreuzunglücklich. Ich zerbrach mir den Kopf darüber, was ich wohl falsch gemacht haben könnte und wie ich das in Zukunft unbedingt verhindern müsste. So stieg mein eigener Anspruch an mein Wohlverhalten von Mal zu Mal. Diese Unsicherheit begleitet mich noch heute. Auch wenn ich für mein Dafürhalten alles richtig gemacht habe, kann ich nicht wissen, in welcher Stimmung ich sie antreffe. Vor einiger Zeit (nach dem Tod meines Stiefvaters) sagte sie mir mit unverhohlenem Vorwurf: "Mein Leben mit Dir habe ich mir auch schöner vorgestellt!" "Ich mir auch!" konterte ich und erschrak im gleichen Augenblick, oh Gott, mein Leben mit dir. Das hört sich mehr nach Partnerschaft als nach erwachsener Mutter-Kind-Beziehung an. Das ist eine wunderbare Überleitung zu Dir



    lieber Buchenberg,


    auch Dir herzlichen Dank für Deine Antwort. In einem Deiner Beiträge beschreibst Du die tragische Geschichte eines über 80jährigen pflegenden Angehörigen, die mich zutiefst berührt und schockiert hat. Schockiert deshalb, weil ich mich in dieser krankhaft symbiotischen Beziehung wiedergefunden habe.


    ... Das sehe ich in diesem Fall als die Ingredienzen des tödlichen Cocktails: Störrisches „Vertrauen auf die eigene Kraft“ bei grober Unterschätzung von Umfang und Komplexität der Pflege einer dementen Person; dazu eine krankhaft symbiotische Paarbeziehung verbunden mit Misstrauen gegen „fremde“ professionelle Hilfe...


    Desweiteren habe ich viele wertvolle Buchtipps zum Thema Narzissmus entdeckt. Endlich Antworten auf meine vielen Fragen und Unsicherheiten. Ich bin glücklich und dankbar, wieder den Kontakt in dieses Forum aufgenommen zu haben.


    Ein wunderschönes Wochenende wünscht Euch


    Elisabetha

    • Offizieller Beitrag

    Hallo Elisabetha, gut, dass Sie in Ihrer schwierigen Situation den Weg in unser Forum gefunden haben.

    Es zeigt sich hier immer wieder wie wertvoll die Erfahrungen von Menschen sind, die in ähnlichen Lagen waren und nun viele Schritte weiter sind.


    Dies hilft hoffentlich in den schnellen und notwendigen Entscheidungen. Lassen Sie sich bitte von der Unterstützung der Pflegerinnen im neuen Heim und den Menschen tragen, die es gut mit Ihnen meinen.


    Es kann helfen, die (innere) Stimme Ihrer Mutter in Ihnen selbst zu begrenzen. Ihre (aktuelle) Mutter hat mit dieser inneren Stimme immer weniger zu tun. Es ist Ihr eigener böser Film, der bei solchen Entscheidungen Raum einnimmt.


    Ich wünsche Ihnen sehr, dass Ihnen dieses Bild hilft, die fast überwältigenden Gefühle zu begrenzen und ich wünsche Ihnen bald eine psychotherapeutische Hilfe, mit der Sie diesen riesigen Ballast Schritt für Schritt lösen können.


    Wenn Sie zu diesem Thema alte Beiträge lesen, werden Sie sehen, wie es bei allen hier im Forum Schritt für Schritt besser geworden ist. Oft zwei Schritte vor und einer zurück, manchmal auch drei...

    Aber die Richtung ist klar, die narzisstische Verstrickung zu Ihrer Mutter können Sie nur durch die Entscheidungen und den Abstand lösen und die Demenz kann beiden helfen, eine unerwartet gute Beziehung zu finden.

    Alles Gute und viel Kraft, Ihr Martin Hamborg

  • Liebe Elisabetha,

    Wie gut ich diese starken Gefühle kenne.. in meiner Therapie sowie Beschäftigung mit den von dir genannten Themen um Narzissmus habe ich gelernt: es sind alte Gefühle, die dann hoch kommen. Als Kind sind wir von der liebetund Anerkennung der Mutter abhängig, als Erwachsene sind wir es eigentlich NICHT mehr, wir brauchen diese Gefühle der Angst, was passiert, wenn wir Kontra geben o.ä. , nicht mehr haben, wir schaffen es eigentlich ohne unsere Eltern. Wenn man das für sich klar hat, ist schon viel gewonnen. Peu a peu kann man versuchen , sich bewusst zu lösen und Schritte der Abgrenzung zu wagen.

    Das sind alte Bahnungen im Gehirn, wir können tatsächlich neue finden, die unser Leben stressfreier machen.

    Oft braucht es dafür leider sehr viel Leidensdruck und den hast du nun offensichtlich!

    Tu dir soviel Gutes wie möglich! Mir wurde auch empfohlen, mich selbst mit kleinen Dingen zu belohnen.

    Liebe Grüße

  • Als Kind sind wir von der Liebe und Anerkennung der Mutter abhängig, als Erwachsene sind wir es eigentlich NICHT mehr......Wenn man das für sich klar hat, ist schon viel gewonnen.

    Ja Rose, da sagst du was! Leider kann man sich dessen klar sein und fällt doch immer wieder in die alten Muster. Ich bin, als ich 14 war ins Internat, habe das als Befreiung empfunden und hatte ab da einen sehr gesunden Abstand zu meiner Mutter. Eigentlich war sie nie an meinem Leben beteiligt, wir hatten zwar immer Kontakt, aber ich habe sie immer auf Abstand gehalten. Dann kam die Demenz und ich sah mich in der Pflicht. Diese wurde auch nachdrücklich eingefordert, es war aber nie gut, nie genug. Und siehe da, 40 Jahre später, war ich plötzlich wieder ganz in der alten Rolle und habe (natürlich erfolglos) versucht, es meiner Mutter irgendwie recht zu machen. Mit psychologischer Hilfe, habe ich viel zu den Mechanismen gelernt, aber nie geschafft, mich wirklich davon zu befreien. Mittlerweile hat sich die Situation inzwischen recht entspannt, da meine Mutter vergessen hat, dass ich die Böse bin, die an allem schuld ist.


    Liebe Elisabetha, kennst du die Seite "Töchter, narzisstischer Mütter" ?


    Viele Grüße never20

    • Offizieller Beitrag

    Hallo never20, bei Ihrem letzten Beitrag fielen mir einige Schuppen von den Augen: never14 ... never10 ... never5

    Niemals wieder in die alten Muster! Das ist ein guter Name für die Aufgabe einer pflegenden Tochter einer narzisstischen demenzkranken Mutter!
    Danke, Ihr Martin Hamborg

  • Lieber never20,


    danke für Deinen Hinweis. Eure Anregungen und Tipps sind so hilfreich und wertvoll. Ich werde dem in aller Ruhe nachgehen. Danke :)


    Herzlichen Dank und einen schönen Abend


    Elisabetha

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