Wie Selbstüberschätzung zur Katastrophe wird

  • Ein Berliner Gericht hat einen Rentner wegen Totschlags an seiner dementen Gattin zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, die Strafe aber wegen verminderter Schuldfähigkeit zur Bewährung ausgesetzt.

    Der Bericht im Spiegel führt viele Mängel unseres Gesundheitssystems auf, die zu dieser Katastrophe beigetragen haben. Obwohl die Frau schwer krank und fast bettlägerig war, fühlte sich weder das Krankenhaus für die pflegebedürftige Frau zuständig, aus dem sie nach einer schweren Aneurysma-OP entlassen worden war, noch der Medizinische Dienst, der nach einer telefonischen (!) Begutachtung die Vergabe eines Pflegegrades für die Frau ablehnte (die Frau hatte am Telefon erklärt, es ginge ihr gut!), noch kümmerten sich lokale Behörden um die Frau.


    Das Ehepaar hatte keine Freunde, die Tochter lebte im Ausland. Die Frau hatte 60 Jahre geraucht, sie bekam eine chronische Lungenerkrankung und bekam nicht genug Luft und verließ nicht mehr die Wohnung. Dass sie auch zunehmend dement wurde, konnte erst während des Gerichtsprozesses geklärt werden. Ihr Ehemann verließ ebenfalls kaum noch den Haushalt. Es entwickelte sich eine fatale Symbiose zwischen ihm und seiner kranken Frau. Er wollte seine Frau „nicht allein lassen“. Das Leben des Mannes drehte sich nur noch um die Pflege der Frau.

    Er wollte alles gut machen, hatte aber keine Ahnung von Demenz und den anderen Krankheiten seiner Frau. Beim nächsten Krankenhausaufenthalt der Frau empfahl ihm die behandelnde Ärztin eine Unterbringung im Heim. Ohne einen Pflegegrad konnte er das jedoch nicht finanzieren.

    Seine Einstellung war auch gegen Heimunterbringung. Er wollte sie nicht „weggeben“. „Sie hat sich doch auf mich verlassen!“, sagt er vor Gericht.

    Im psychologischen Gutachten des Täters heißt es, er habe durch die „Überforderungs- und Belastungssituation eine schwere depressive Episode entwickelt“. Nach seiner Tat sprang er von seinem Balkon, überlebte aber schwerverletzt den Sturz.


    Das sehe ich in diesem Fall als die Ingredienzen des tödlichen Cocktails: Störrisches „Vertrauen auf die eigene Kraft“ bei grober Unterschätzung von Umfang und Komplexität der Pflege einer dementen Person; dazu eine krankhaft symbiotische Paarbeziehung verbunden mit Misstrauen gegen „fremde“ professionelle Hilfe.


    Grüße von Buchenberg


    (alle Zitate aus dem SPIEGEL)

    Einmal editiert, zuletzt von Buchenberg ()

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    • Offizieller Beitrag

    Hallo Buchenberg, nun möchte ich endlich einen Kommentar zu diesem bewegenden Beispiel aufgreifen.


    Es zeigt die enorme Verzweiflung, die Hilflosigkeit unseres Hilfesystems und das persönliche und das Organisationsversagen einzelner Institutionen.


    Leider werden wir nie - aus denen von Ihnen genannten Gründen - solche dramatischen Fälle ausschließen können, aber sie sollten alle wachrütteln.


    Es gibt vermutlich viel mehr "prekäre Verhältnisse" ohne dass jemand sich über das Ausmaß klar wird: Angehörige, Nachbarn, Hausärzte usw.

    Der Medizinische Dienst hat den Auftrag genau hinzuschauen, auch ambulante Dienste durch sog. Beratungsbesuche, wenn es einen Pflegegrad gibt.


    Ich habe häufiger in Ergotherapiepraxen Supervison gemacht, weil die Therapeuten die Einzigen waren, die in diese prekären Verhältnisse hineingelassen wurden und mit dem überfordert waren, was Sie dort miterleben mussten.


    Es wäre zu wünschen, dass so etwas verpflichtend wäre und finanziert wird, um zumindest noch eine weitere Strategie gegen die heimliche und unheimliche Gewalt in häuslichen Pflegebeziehungen zu bekommen. Stattdessen werden auch die Profis allein gelassen.


    Was bleibt ist die bürgerschaftlichen Pflicht immer genau hinzuschauen, Hinweise ernst zu nehmen und an die Verwantwortlichen weiter zu geben.

    Danke für Ihren Beitrag, Ihr Martin Hamborg

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