Hallo Nelly, genau so ist es: nicht Betroffene sind nur begrenzt mit unseren Sorgen belastbar ... das ist normal.
Ich habe mir nun - angesichts deiner Fragen - ein paar Gedanken gemacht, was mir in diesem Prozess mit meiner dementen Mutter geholfen hat (und hilft, denn der Prozess läuft ja noch). Vielleicht sind ein paar passende Gedankensplitter für dich dabei.
1. Man muss ohne Wenn und Aber akzeptieren, dass es sich bei Demenz um eine sehr schwere und fortschreitende Krankheit handelt, für die niemand etwas kann, weder die demente Person noch wir. Niemand sucht sich das aus - es ist ein schweres Schicksal. Ein wichtiges lebensnotwendiges Organ büßt seine Funktion ein. Die Symptome sind deutlich.
Das oftmals von außen transportierte leicht-beschwingte und frohsinnige Bild über Demente ist da wenig hilfreich. Das erweckt in vielen das Gefühl, es wäre eigentlich alles so easy und man fragt sich, warum man selbst es eben nicht so easy findet.
2. Eins der allergrößten Probleme ist, dass den Dementen eben auch die Krankheitseinsicht (die Erwachsene sonst mehr oder weniger haben) verloren geht. Sie wissen nicht mehr, wie es wirklich um sie steht, was sie brauchen, was sie nicht mehr können. Sie sind dennoch und gerade deswegen schutzlos und schutzbedürftig (wie Kleinkinder) und jemand MUSS ihnen diesen Schutz - auch gegen ihren Willen - bieten.
3. Wir sind die engsten Angehörigen und sollten - so gut wir können und es wollen - die Verantwortung übernehmen oder sie weitergeben. Nach bestem Wissen und Gewissen müssen wir tun, was die demente Person notwendig braucht, auch wenn das nicht gern gesehen wird und Protest hervorruft (wie bei einem Kleinkind). Aber in diesem Fall sind wir die "Klügeren" und Stärkeren und müssen handeln.
4. Man muss aushalten, dass man hierfür keinen Dank erhält sondern ggf. das Gegenteil. Es geht nicht um uns, um unsere Wünsche (uns gut zu fühlen, weil die demente Person uns gute Worte sagt). Das ist traurig und schrecklich, aber leider nicht zu ändern.
5. Ich selbst habe mich ein für alle Mal davon verabschiedet, mit meiner Mutter irgendwelche alten Rechnungen (die gibt es ja immer) von früher aufzuarbeiten. Das ist manchmal schwer, denn noch erkenne ich alte Persönlichkeitszüge meiner Mutter, aber nichts davon ist noch tragfähig. Eben noch gibt es eine einigermaßen sinnvolle Reaktion von ihr und im nächsten Augenblick ist die Brücke abgerissen und es gibt nichts Verbindendes mehr. Die Hausärztin meiner Mutter meinte zu mir: Sie müssen verstehen, dass das nicht mehr ihre Mutter ist (also die von früher).
6. Mir hat auch geholfen, immer mal wieder den demenziellen Zustand meiner Mutter zu testen und auch die Pflegerinnen zu befragen. So sagte meine Mutter oft, dass sie nach Hause möchte (ich triggere sie sicher), aber die Pflegerinnen meinen, dass sie sonst eigentlich sehr zufrieden ist und nie nach Hause möchte. Vieles vom von ihr Gesagten hat inzwischen floskelhaften Charakter - und diese passen manchmal, manchmal auch nicht. Sie weiß auch gar nicht mehr, wo zu Hause ist.
7. Besuche zu minimieren ist nicht unbedingt hartherzig, sondern hilft den Dementen, den Schmerz langsam zu vergessen (an den wir sie sonst immer wieder erinnern). Fällt mir selbst sehr schwer, aber die Heimleiterin sagte mir: Bitte überlegen Sie, weswegen Sie Ihre Mutter besuchen. Es muss nicht sein, dass Sie ihr damit einen Gefallen tun. Es kann sein, Sie tun das nur für sich selbst. Ich bin anfangs täglich hingegangen, gehe jetzt zweimal pro Woche und selbst das überfordert meiner Mutter - außerdem vergisst sie meinen Besuch umgehend und selbst, wenn ich zweimal täglich hingehe, wundert sie sich, warum ich so lange nicht da war.
8. Vielen hier geht es wie dir und mir: Sie wollen der gute empathische Mensch sein, es (auch) den Eltern recht machen ... Ja, vielleicht sind manche auch weniger empathisch gepolt. Andererseits ... Ist es nicht völlig normal bzw. sehr angenehm, ein empathischer Mensch zu sein? Und ist es nicht völlig normal, dass uns dann diese unbekannte und einmalige Herausforderung völlig aus der Bahn wirft, weil wir komplett an unsere Grenzen stoßen.
9. Diese schwere Krankheit IST einfach eine der größten Herausforderungen für alle Beteiligten. Ich wünschte mir auch, dass ich schneller gut damit umgehen kann. Aber ich erlebe es zum ersten Mal. Und ich muss einfach durch das tiefe Tal durch, in der Hoffnung, dass es auf der anderen Seite mal wieder etwas einfacher wird. Ich musste meinen Widerstand aufgeben und das Schicksal annehmen. Leicht gesagt, aber nicht leicht getan.
10. Ich erkenne an, dass meine Mutter in einer völlig anderen Realität lebt als ich. In ihrem Ich fehlen ganze Teile und aus den Resten baut sie sich ihre Welt zusammen. Die Pflegerinnen im Heim gehen ganz selbstverständlich mit ihr um und sprechen mit ihr z.B. in einer Art, die ich manchmal seltsam finde (wenn ich an meine ehemals dominante, couragierte und kluge Mutter denke). Aber genau das funktioniert prima und meine Mutter fühlt sich angenommen. Also auch meine Maßstäbe muss ich teilweise ändern.
11. Viel hat mir auch geholfen, hier mitzulesen (man findet immer diesen oder jenen Gesichtspunkt) oder viele Erfahrungsberichte dazu zu lesen. Ich meine nicht unbedingt diese hochgepriesenen Bücher oder Filme, sondern man muss etwas suchen, was einen anspricht. Jeder Fall ist anders, aber viele Entwicklungen sind gleich.
Ich könnte noch mehr schreiben, aber diese 11 Punkte sollen erst mal genügen. Vielleicht ist nicht alles logisch geordnet, aber darum geht es ja nicht. Ich weiß natürlich auch bei Weitem nicht alles, was notwendig wäre. Aber so wie mir mancher Beitrag hier der Strohhalm im Meer der Verzweiflung war, kann ich vielleicht auch diesen oder jenen Aspekt beitragen. Liebe Grüße und alles Gute!